Irgendwie Brain-storm

Susanna K. aus Halle/S. (15 Jahre): „Ich habe einfach nur Angst. So viel ist in den letzten Monaten passiert. In der Schule muß man immer aufpassen, wo man hinläuft. Einige Mädchen sind schon angefallen worden, meistens auf der Toilette. Da stehen sie dann immer und warten. Wehe, wenn da ein Ausländerkind vorbeikommt.

Ich verstehe das alles nicht. Früher habe ich mich mit allen verstanden, und plötzlich rennen schon Zwölfjährige mit Messern und Pistolen rum. Nun, was soll man dagegen tun? Ich weiß es nicht. Ich kann doch gar nichts machen. Wenn ich nur schon die Jungs mit den Glatzen sehe, bekomme ich solche Angst, daß ich ihnen lieber aus dem Weg gehe. Die Lehrer können da auch nichts machen. Über irgendwelche Strafen lachen die doch nur. Das scheint sogar eine Art Auszeichnung für die zu sein. Manche Lehrer rennen inzwischen schon völlig entnervt aus der Klasse.

Mein Vater sagt immer, ich soll mich da um Himmels Willen raushalten, die schrecken ja vor nichts zurück. Er hat auch schon mal Ärger bekommen. In der U-Bahn. Drei von den Typen hatten einen Ausländer vollgepöpelt. Aber wenn man da versucht einzuschreiten, hat man vielleicht noch ein Messer im Rücken. Die Politiker müßten was tun. Aber die reden ja immer nur. Und reißen sich die Steuergelder unter den Nagel. Ich hoffe nur, daß meine Kinder mal nicht solche Angst haben müssen. Wenn nur nicht alles so hoffnungslos wär. Man ist denen ja völlig ausgeliefert. Wer riskiert schon gern einen eingeschlagenen Schädel. Also haut man lieber ab.“

Heidrun P. aus Bochum (58 Jahre): „Was soll ich dazu sagen? Die Medien übertreiben natürlich auch immer. Sicher ist das eine Gefahr, aber sollen wir Bürger uns darum kümmern? Wofür haben wir denn eine Regierung? Wir haben doch auch unsere alltäglichen Sorgen. Außerdem lassen sich diese Rowdys doch von uns nichts sagen. Was sollte ich schon tun, wenn die in einer Gruppe daherkommen? In der Zeitung steht viel darüber, aber ich persönlich habe noch nichts mitbekommen. Und so lange die mir nichts tun, geht es mich doch nichts an.

Verbrecher gibt es auch in höheren Schichten, und denen passiert gar nichts. Ab und zu sieht man mal solche kahlgeschorenen Jugendlichen irgendwo herumstehen. Aber ehrlich gesagt, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß die alle Mörder sein sollen. Außerdem kann man denen die Angst nicht verdenken, die sie haben wegen der Arbeitslosigkeit. Obwohl ich es nicht richtig finde, was da in Mölln passiert ist.“

Peter M. aus Luckau (43 Jahre): „Umlegen muß man die Schweine. Genauso, wie die mit Ausländern umgehen, genauso muß man mit denen umspringen. Damit die mal sehen, wie so was ist. Ich habe überhaupt nichts gegen Ausländer. Ich arbeite auf dem Bau, da wimmelt es nur so von Polen und Jugoslawen. Das sind doch genauso Menschen wie alle. Und wenn die Neos aus Frust alles kurz und klein schlagen, kann ich nur sagen: in den Tagebau mit denen. Damit die mal richtig arbeiten lernen. Die sind doch sowieso zu faul. Wenn wir keine Ausländer hätten, würden wir sowieso im Müll ersticken. Schauen Sie doch mal, was die alles für Arbeiten erledigen. Diese Neos wären sich natürlich zu fein dazu.

Ich kann Ihnen sagen, wenn ich die Macht hätte ... und die Politiker gleich mit einsperren. Das sind doch alles selbstherrliche, korrupte Dilettanten.

Nehmen Sie doch mal den Krause. Der Knilch verdient so viel in einem Monat wie unsereins in einem halben Jahr und bringt es nicht fertig, eine Putzfrau aus der eigenen Tasche zu zahlen. Da geht einem doch das Messer in der Tasche auf. Nein, die Politiker sind unfähig, das zu lösen. Soviel Gewalt gab es seit Hitler noch nie. Jetzt fangen schon die Kinder an. Durchgreifen ist die Devise und nicht nur reden.“

Ingo K. aus Bamberg (19 Jahre): „Ich frage mich, wie wir die alle durchbringen wollen. Die kommen doch alle nur her, weil sie hier besser leben könnten. Was soll ich denn noch sagen, wenn ein Deutscher jahrelang in einem Loch wohnt, und so ein Pole kriegt sofort eine Riesenbude mit allem Drum und Dran. Denen wird‘s doch viel zu leicht gemacht. Und was hat ein Russe, der kein Wort deutsch spricht, schon Deutsches an sich? Nein, die sollen sich erst mal um die eigenen Leute kümmern, bevor die ganzen Wirtschaftsflüchtlinge hierher kommen. Und inzwischen wird alles teurer. Man hat ja schon bald gar nichts mehr zum Leben.

Klar muß man nicht gleich Leute umbringen. Aber meinen Sie, die haben das mit Absicht getan? Die wollten doch die Ausländer nur erschrecken, dabei ist es eben passiert. Da kann ich auch nichts gegen tun. Bestraft werden müssen die natürlich. Aber warum entsteht denn so was? Weil die Politiker Fehler machen. Ich bin heilfroh, daß ich eine Lehrstelle habe. Aber was hinterher kommt, weiß ich ja auch noch nicht. Wenn dann so ein Türke eher Arbeit bekommt als ich, werde ich das auch nicht so einfach hinnehmen.“

Doris M. aus Stuttgart (32 Jahre): "Ich kann das schon gar nicht mehr hören! Wenn die im Fernsehen wieder mal so einen Filmbericht bringen, stelle ich immer ab. Was können wir denn dafür, daß da einige Jugendliche verrückt spielen? Und ich habe es satt, daß wir immer noch dafür zur Verantwortung gezogen werden, was vor fünfzig Jahren passiert ist. Ich kann sowieso nichts daran ändern. Oder glauben Sie, daß die Skinheads auf mich hören würden? Was können wir schon tun? Zahlen. Immer wieder und immer mehr zahlen. Warum soll ich nun mit meinem verdienten Geld die Bundesbahn sanieren, wenn die Chefs unfähig sind, so ein Unternehmen vernünftig zu leiten? Wissen Sie, ich habe so richtig die Schnauze voll.

Und wenn die Republikaner so viele Stimmen kriegen, dann nur, weil die Leute gefrustet sind. Das ist doch das einzige Mittel, das hilft.“

Bernd D. aus Köln (29 Jahre): „Am besten die Mauer wieder aufbauen und die Grenzen dicht machen. Früher, als wir noch unter uns waren, da gab‘s nie Stunk. Die Ossis sind doch alles faule Schweine und fordern immer mehr. Unsere Eltern haben mit fuffzig Mark im Monat angefangen, und die machen die ganze Wirtschaft kaputt mit ihren Forderungen. Und die Ausschreitungen kommen sowieso nur von drüben. Wo hat denn das alles angefangen: drüben. Warum soll ich alles zahlen, was die Kommunisten kaputtgemacht haben? Die da drüben haben doch immer alles mitgemacht. Die waren doch damit zufrieden, sonst hätte das keine vierzig Jahre gehalten.

Wir sind mit unseren Gastarbeitern immer klar gekommen. Jetzt haben wir den Salat. Eine leere Staatskasse, neue Nazis und ‘ne ganze Menge Schulden. Was habe ich jetzt von meiner Arbeit? Ich kann mich gerade mal so ernähren. Dabei kann doch von uns wirklich keiner was dafür.“

Helmut P. aus Berlin (40 Jahre): „Wenn wir weiter so viele Türken hier rein lassen, haben wir bald schon ein Aids-Notstandgebiet. Die ganzen Krankheiten kommen doch nur von den Ausländern. Und bevor ich meine Arbeit einem Türken überlasse und betteln gehen muß, tu‘ ich eher was dagegen. Die müssen raus, und zwar schnell. Man sieht ja, daß es nicht mal für uns Deutsche reicht. Die laschen Politiker haben wohl vergessen, daß wir ein Volk sind. Schauen Sie sich doch mal um. An den Schulen rennen lauter schwarzhaarige Bastards rum. Wie sollen unsere Kinder sich da noch sicher fühlen.

Wissen Sie, wie viele Verbrechen von den Ausländern verübt werden? Vielleicht kann man nur noch radikal gegen diese Mißstände vorgehen. Sonst ändert sich doch nichts. Ja, ich bin rechts eingestellt. Aber nur, weil wir Deutschen zu kurz kommen. Das war‘s.“

Ali Kaiman aus Uganda: Ali hat keine Meinung mehr. Ali wurde am 23. September von einer Gruppe glatzköpfiger Jugendlicher mit Baseballschlägern erschlagen. Diese Tortur dauerte ganze zwanzig Minuten. Zwanzig Minuten, in denen Ali Kaiman sich mehr als einmal gewünscht hatte, er wäre nie hierher gekommen. Dabei hatte alles so gut angefangen damals ... Aber wer würde an dieser Stelle Alis Geschichte hören wollen? Wer würde wissen wollen, was ihn von seiner Heimat, von seinen Freunden und Verwandten wegtrieb. Wer würde verstehen wollen, daß auch er ein Recht auf Leben hatte? Und vor allem, wer hätte ihn retten wollen?

Außerdem erübrigt sich diese Frage, weil ihn niemand gerettet hat. Wer steht für die Schwachen ein, für die Opfer von morgen? Und wer für die Täter? Wie finden wir wieder zueinander, und wie lernen wir wieder, miteinander zu reden? Sollen wir weiterhin die Täter verurteilen und die Opfer bemitleiden? Oder wollen wir über unsere Feindbilder und über unsere Ängste sprechen? Vielleicht wollen wir ja auch gar nichts ändern. Wer ist denn eigentlich für Veränderungen zuständig? Keine Wortmeldung.

Lassen wir uns weiterhin jeden verdammten Tag unsere Arbeitskraft bezahlen, um uns abends vom restlichen Leben auszuschließen? Keine Gegenstimme. Wo steuert die Gesellschaft eigentlich hin? Zusehen kann aber auch anstrengend sein. Vielleicht kommt da mal einer, der eine Meinung hat. Die könnte man ja ganz einfach aufgreifen. Also abwarten. Wo gehobelt wird, fallen Späne.

NEIN, das geht jetzt aber wirklich zu weit. Aber wer soll denn nun eigentlich was tun? Und wer ist eigentlich ein Ausländer? Wo fängt es an und wo hört es auf? Keine Antwort. Wie viele Neunazis haben englische oder spanische Vorfahren? Wie viele wissen überhaupt davon? Wie viele Deutsche müßte man vorsichtshalber umlegen, um ganz sicher zu sein? Ist das überhaupt die richtige Frage? Um was, verdammtnochmal, geht‘s denn überhaupt wirklich, Herr Kohl? Unartikuliertes Gebrabbel. Vorbilder sind nicht in Sicht, richtige Wege wohl auch nicht. Also lassen wir‘s.

Wird schon irgendwie klappen. Hat ja immer irgendwie geklappt. Ja, irgendwie.

*Hier klicken zum Start des Erzählungsbandes -> “M.O. Und andere Geschichten aus dem 4. Reich” von Jens Thieme, 1994.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

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