Von Distanz und Nähe um 911

911 passierte während ich mit meiner Frau und unseren kleineren Kindern fünf Jahre in den USA lebte. Wir starteten eben in den Arbeitstag als unser Regionalpräsident alle in ein Sitzungszimmer rief, Live News Bilder liefen auf dem Grossbildschirm. Zusammen mit 30-40 Kollegen beobachteten wir stumm und fassungslos wie das zweite Flugzeug in die Südseite des Südturms flog.

Nach einer schockgefüllten und todstummen Viertelstunde begannen wir unsere Angehörigen zu kontaktieren. Unser Präsident: "Wir wissen nicht, was im Land passiert und passieren wird, aber es scheint sicher zu sein, sich frei zu bewegen. Geht bitte jetzt zu Euren Familien. Wer mit mir reden möchte oder Unterstützung wünscht: ich bleibe bis das Gebäude leer ist".

Da wurde ich von der Elementary School angerufen, wir sollen bitte unsere Kinder so schnell wie möglich abholen. Die Schule meiner Tochter befand sich 500 yds neben einem der grössten Treibstofflager der Ostküste. Es war einer der Orte, die sofort grossflächig evakuiert wurden, ausgelöst durch Notfallpläne aus dem kalten Krieg. Der Kindergarten unseres Sohns lag am anderen Ende der Stadt, also fuhren meine Frau und ich in unterschiedliche Richtungen, unsere Kinder einzusammeln. Diese wachsende Distanz war ein Gefühl der ohnmächtigen Unsicherheit.

Die Fahrt zur Vorschule war geprägt von Fragen was meine Kinder mitbekommen haben, wie ich als Vater auf sie wirken und natürlich wie ich die Familie beschützen kann, was sonst noch passieren mag, wer angreift, wie lange, wo und wodurch. Sicher daheim, versuchten wir die Nachrichten zu verfolgen, ohne die Kinder zu verunsichern und zu verängstigen. Durch die Evakuierung waren sie natürlich exponiert, aber es gelang uns über ein paar Tage einen Cocon für sie aufrechtzuerhalten.

Unser Nachbar war ein SWAT Teamleader beim FBI (Narcotics), Kerl wie ein Bär der aus jeder Pore Lebenslust und Humor ausstrahlte. Er lag drei Tage weinend im Bett.

Die nächsten Monate waren geprägt von einer unfassbaren Nähe Aller, Besonnenheit, Ruhe, einander zuhören, jeden Tag mittags Lunch mit der Familie, noch mehr gemeinsame Aktivitäten mit den Kindern und viel cozy time.

An einem der ersten Tage als der Luftraum über downtown Manhattan wieder für die Zivilluftfahrt geöffnet wurde, flog ich im Landeanflug auf LaGuardia von Battery Park kommend entlang West St direkt über Ground Zero. Das Bild der räuchernden Trümmerlandschaft und die Todesstille im Flugzeug werde ich nie vergessen. Es fühlte sich so an, als ob sogar die Triebwerke verstummt waren.

Unser Sohn (Kindergartenalter), von dem wir dachten, dass er so gut wie nichts mitbekommen hatte, zeichnete im Februar 2002 ein Bild mit zwei Hochhäusern, fallenden Bomben und Menschen, einer trug einen Turban und langen Bart.


Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

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