Schlappen

Stasi Haft 15. April 1985

Mein erster kompletter "Routinetag".
Denke ich.
Fühlt sich so an.
Apropos: gemütliche Hausschuhe.
Den ganzen Tag.
Keine anderen Schuhe.

Original-Pantoffeln, wie sie in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Leipzig verwendet wurden.

Habe mich morgens in der Zelle mit eiskaltem Wasser gewaschen.
Keine Dusche.
Am Morgen wieder das Essen verweigert.
Und den Rest des Tages.
Wasser getrunken, wenn es angeboten wurde.

Das erste Verhör begann gegen 8 Uhr morgens.
Persönliche Geschichte. Langweilig. Und:

"Was wollen Sie erreichen?"
"Ich will raus, ich habe hier keine Zukunft."
"Sie können eine gute Zukunft haben, wenn Sie die richtigen Entscheidungen treffen."

Schubert erzählt mir (sehr seltsam) von seiner Erziehung und seinem Dienst an der Gesellschaft.
Es klingt wie eine Propagandaerklärung, der Partei oder der Armee beizutreten, um den Staat vor den Imperialisten im Westen zu schützen.

"Ihr habt hier keine Zukunft für mich. Ihr seid nicht die Zukunft."
Er versucht zu verbergen, dass er sauer auf mich ist.
Aber er benimmt sich.

Ich beschliesse, ihn zu testen, aber schrittweise.
Er zieht meine Lebensabschnitte in die Länge.
Das kann ewig dauern.
Und das tut es auch.

2 Stunden Pause am Nachmittag.
Zurück in die Zelle.
In gemütlichen Hausschuhen.

Nach meiner Rückkehr frage ich Schubert nach meinen Eltern.
"Ich weiss es nicht."

Und noch einmal:
"Was wollen Sie?"
"Was wollen SIE?"
- Schweigen.

Er merkt, dass ich anfange, ihn zu provozieren.
Sein ‘Schachzug’, mich zu disziplinieren:
"Es liegt an Ihnen, ob Sie hier sehr lange bleiben oder ob es Fortschritte gibt."

"Fortschritt für WAS?! Mich daran hindern, ein Menschenrecht auszuüben? Sie wissen, dass Sie auf der falschen Seite der Geschichte stehen." -er weiss es nicht.

Ignoriert mich, schreibt aber jedes Wort mit.
Schlechter Tipper.
Weiche Hände.
Babygesicht.

Ich muss das lange Tippen unterbrechen:
"Habt ihr hier eine Duschkabine?"
"Duschen ist donnerstags."
"Duschen Sie nur einmal in der Woche?"
-Stille

"Warum wollen Sie nicht essen?"
"Ich will Ihr Essen nicht - ich will raus."
"Wir können Sie zwangsernähren."
"Das bezweifle ich nicht, machen Sie nur."

Schubert versucht, im Prozess zu bleiben, um mit der Aufzeichnung meiner Lebensgeschichte voranzukommen.
Wir sind auf Seite 20 oder so und im Alter von 6 Jahren.
Es zieht sich bis in die Nacht hinein.

Ein weiterer Versuch mit Schubert für heute:
"Was gefällt Ihnen an Ihrem Job?"
"Ich stelle die Fragen."
"Ich bin müde."
-Stille

"Wollen Sie essen?"
"Nein."

In meiner Zelle steht nachts Essen.
Es sieht besser aus.
Ich ignoriere es.

15-minütige Lichtblitzintervalle.
Ätzend.

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

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