Papa

Stasi Haft 3. Mai 1985

Papa kommt heute.
Ich bin aufgeregt und habe Angst, ihn verletzt zu sehen.
Er wird wissen wollen, dass ich in Sicherheit bin.

Gestern - ein Tag mit endlosen Wiederholungen.
Wie ich aufgewachsen bin, wie meine Eltern mich erzogen haben, wie sie mich beeinflusst haben.
Ich musste den ganzen Tag über an sie denken, bis in eine weitere von Lichtblitzen unterbrochene Nacht.

Wie haben sie die letzten zwei Wochen gelebt?
Wie haben sie geschlafen?

Überraschung am Morgen.
Baby Schubert spricht offen über §219.
Sie 'bewerten' ihn neben dem 'offensichtlichen' §214.

Warum heute?
Warum Stunden bevor ich meinen Vater sehe?
Ich kann sowieso nichts tun!

Ich habe versucht, es so gut wie möglich auszublenden.
Es gibt keinen Beweis dafür, dass ich absichtlich eine "fremde Macht" involviert habe.
Es sei denn, eine Kopie des 3-seitigen Manifests hat den Weg nach draussen gefunden, was ich nicht weiss.

Am frühen Nachmittag holt mich ein Callboy ab.
Führt mich durch die vielen Gänge.
Fühlt sich an wie eine solide Wanderung von 15 Minuten.

Original Stasi-Besucherraum, wie er bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale durch Dissidenten während der Revolution 1989 fotografiert wurde. Nicht wirklich einladend, aber im Vergleich zu unseren Zellen: 4-Sterne.

Ich spüre die Wärme und die Nerven am ganzen Körper.
Kleiner, einfacher Raum, ein Tisch, zwei Stühle, hässliche Tapete.
Nach 5 Minuten Wartezeit öffnet sich die Tür und ein Wachmann führt meinen Vater herein.

Er sieht traurig und erleichtert aus.
Wir umarmen uns lange.
Der Wachmann bricht den Kontakt ab.

"Setzen Sie sich.
Sie dürfen nicht über den Fall sprechen.
Sie dürfen nichts austauschen.
30 Minuten."

Ich lächle.
Weil ich glücklich bin und weil ich Vertrauen zeigen will.

"Tun sie dir weh?"
"Nein."
"Ehrlich?"
"Ja, Papa, sie versuchen nur herauszufinden, was sie mir vorwerfen können. Sie sind korrekt mit mir."

"Du siehst schrecklich aus."
Kein Wort über den Hungerstreik.
"Ich schlafe nicht besonders gut und bin nicht besonders hungrig."

Er sieht alt aus.
Abgenutzt.
Meine Schuld.

"Wie geht's Mama?"
"Gute und schlechte Tage."
"Sag ihr, wie leid es mir tut und..."
"Du sollst wissen, dass wir immer hinter Dir stehen werden, egal was Du getan hast und was Du versuchst. IMMER!"

-Schweigen

"Wir wussten nicht, dass Du an diesem Scheideweg stehst."
"Ich weiß. Ich brauchte das, um meinen eigenen Weg zu gehen."
"Wir unterstützen Dich!"
"Bleibt gesund und sicher."
"Das sind wir."

Ich glaube ihm.
Mein Vater kann nicht lügen.
Hat er nie. 

"Was wird passieren?"
"Ich glaube, dass ich in ein paar Monaten angeklagt werde."
"Wofür?"

"KEINE DETAILS ZU DEM FALL!"

"Manche bekommen 2 Jahre, manche weniger."
Ich versuche, optimistisch zu klingen.
VIELEN DANK, BABY FACE!

Nach den 30 Minuten umarmen wir uns beide wieder.
Sie vergingen aber wie 10.
In 4 Wochen kommt er wieder.

"Versprich mir, dass du genug isst."
Ich bin immer noch nervös, aber er war erleichtert.
Es ist der Anfang einer neuen Geschichte.

*Zeitzeugenbericht -> Beginn. Dieser Blogeintrag ist Teil eines linear erzählten Zeugenberichts des Zeitzeugen Jens Thieme der 1985-1986 als politischer Häftling in verschiedenen DDR Gefängnissen vom DDR Ministerium für Staatssicherheit eingesperrt wurde. Stasihaft, Stasi-Haft, Stasi Haft, Stasigefängnis, Stasi-Gefängnis, Stasi Gefängnis.
Jens Thieme

Playing hard, living loud, moving around fast, resting deep and enjoying it all.

https://jens.thie.me
Previous
Previous

Rot feiern

Next
Next

Gedichte